
CHILE: Meine Mutter und Claudio Arrau
Meine Mutter war nie in Südamerika. Ja, sie kam zeitlebens nicht mal aus Europa heraus. Dennoch fand ich auf unserer Reise nach Patagonien einen Ort, der etwas über meine Mutter und ihre Lebensgeschichte erzählt: Chillán, eine quirlige chilenische Stadt, die wir mit dem Zug erreichten. Dort steht ein kleines Museum, das einem weltberühmten Pianisten gewidmet ist: Claudio Arrau. Er ist der große Sohn der Stadt, wurde 1903 hier geboren und 1991 mit einem großen Staatsakt begraben.
Was das mit meiner Mutter zu tun hat? Nun, sie war Schülerin beim großen Meister. Doch der Reihe nach: Schon in jungen Jahren wurde Claudio Arrau als „musikalisches Wunderkind“ zum Klavierstudium nach Berlin geschickt, hatte dort berühmte Lehrer und gab schon mit 17 sein erstes Konzert mit den Berliner Philharmonikern. Von 1925 bis 1940 war er Professor am Konservatorium in Berlin, zudem ging er weltweit auf Tourneen.

Eine verheißungsvolle junge Pianistin
Meine Mutter studierte in dieser Zeit Klavier an eben diesem Berliner Konservatorium. Ihr Weg dahin war lang. Schon als Kind entdeckte man ihr besonderes musikalische Talent, sie erhielt früh Klavierunterricht und mit 17 Jahren verließ sie ihr Elternhaus in Bärringen, einem kleinen Dorf nahe Karlsbad, um 1928/29 in Genf am dortigen Konservatorium Klavier zu studieren. Nach Studienaufenthalten in Stuttgart, München und Leipzig zog es sie nach Berlin, der Musikhauptstadt, und wurde dort 1936 von Claudio Arrau als Meisterschülerin angenommen. In dieser Zeit gab sie als Solistin Konzerte und spielte live im „Reichsrundfunk Berlin“. Ihr Name: Grete Bartl.

Was für ein verheißungsvoller Auftakt für eine Karriere als Pianistin! Doch es kam ganz anders: Nach dem Überfall auf Polen 1939 und dem Ausbruch des Krieges musste sie zurück nach Bärringen, um im elterlichen Textilbetrieb zu arbeiten. Im August 1944 heiratete sie Erwin Eckart und sie bekamen zwei Kinder: Christine und mich. Mit dem Zusammenbruch des NS-Staats im Mai 1945 und der daraus folgenden Flucht und Vertreibung der Sudetendeutschen kam meine Mutter mit der Familie Bartl nach Ravensburg in Württemberg. Vater kam erst später aus Krieg und Gefangenschaft zurück.
Im Kreis Ravensburg hatte meine Mutter zwar hin und wieder kleinere Auftritte als Pianistin, konnte aber nicht mehr an ihre so verheißungsvoll begonnene Karriere anknüpfen. Der Krieg hatte ihre Laufbahn als Solopianistin zerstört – so wie er unzählige Lebensläufe dramatisch verändert hatte.
Die Klavierpädagogin
Mitte der fünfziger Jahre zog unsere Familie nach Nürnberg, wo sie begann, Klavier zu unterrichten. Die Schar ihrer Schüler wuchs schnell, weil sich ihr Ruf als bestens ausgebildete Pianistin und Musikpädagogin herumsprach. Zudem ging sie immer noch voller Leidenschaft in ihrer Musik auf, übte täglich diszipliniert mehrere Stunden, und hin und wieder gab sie noch Konzerte in kleinerem Rahmen. Der Weg zu den großen Bühnen blieb ihr aber versperrt, dazu war sie zu lange aus dem Musikbetrieb draußen.
Was blieb und mir meine Mutter von klein auf vermittelt hat, ist die Liebe zur Musik. So gingen wir regelmäßig zu Konzerten in die damals neu gebaute Nürnberger Meistersingerhalle. Ich erinnere mich daran, wie ich in den sechziger Jahren mal mehr, mal weniger die Konzerte genoss (meist schienen sie mir zu lang), auch die steife Atmosphäre störte mich, zudem gab es sehr wenige junge Leute. Der Konzertbetrieb war damals schon überaltert. Was ich hingegen genoss, waren die ausführlichen Pausen: Mit Getränken ausgestattet wandelten wir durch die großzügigen Vorhallen und ich war stolz, zu den Liebhabern der „gehobenen Musik“ dazuzugehören.
Wiederbegegnung im Konzertsaal
Eines Tages gab es ein besonderes Highlight in der Meistersingerhalle: ein Konzert mit Claudio Arrau! Ich erinnere mich nicht mehr daran, was er gespielt hat, aber daran, dass meine Mutter das ganze Konzert über feuchte Augen hatte. Da wir mit dem Dirigenten des „Fränkischen Landesorchesters“, Erich Kloss, befreundet waren, hatte er es arrangiert, dass wir nach dem Konzert hinter die Bühne durften, um den Maestro zu treffen. Als wir das Künstlerzimmer betraten, war ich erstmal erstaunt darüber, wie klein der große Pianist war. Ob er seine ehemalige Schülerin wiedererkannte? Auf jeden Fall wechselte er freundliche Worte mit meiner Mutter, die darüber natürlich sehr glücklich war. Und ich war stolz darauf, dass meine Mutter einen weltberühmten Musiker persönlich kannte!
Übrigens: Mit dem Aufkommen der Beatmusik wechselte ich die Seiten. Ich wurde rebellisch und „Roll over Beethoven“ wurde mein musikalisches Motto. Die Band, in der ich damals spielte, würde heute als Vorläufer des Punk durchgehen: wild, laut und auf ein paar wenige Gitarrengriffe beschränkt. Erst später fand ich zur Klassik zurück und entdeckte den Jazz für mich.
Im Museum des Maestro
Zurück nach Chile, ins Museo Claudio Arrau Leon in Chillán. Es war Mitte Dezember 2019, ein sehr heißer Tag, als ich mich vom Hotel auf den Weg dorthin machte. Am Eingang wurde ich von einer freundlichen älteren Dame begrüßt, offenkundig die gute Seele des Hauses. Sie war erkennbar froh, dass ein Besucher von weit her, noch dazu aus Deutschland, sich für „den Maestro“, wie sie ihn stets ehrfürchtig nannte, interessierte. Sie bot mir gleich eine Führung durch das „interaktive Museum“ an, ein Begriff, den sie zu Beginn immer wieder betonte.
Aktiv war vor allem meine Führerin und voller Anekdoten aus seinem Leben. Da sie natürlich Spanisch sprach, ich aber – trotz Sprachkurs in Buenos Aires – kaum über die Anfangsgründe hinausgekommen war, war die Verständigung mühsam. Irgendwie hatte ich es aber doch geschafft ihr zu erklären, was mein familiärer Zugang zum Maestro war…

Das begeisterte sie so, dass sie mich umso motivierter und wortreicher durch das Museum führte – während ich bemüht war, sie nicht zu enttäuschen, also zumindest versuchte den Anschein zu erwecken, dass ich das Meiste verstand. Hilfreich dabei war, dass viele Exponate für sich selbst sprachen: die sehr zahlreichen Fotos an den Wänden (leider fand ich keines mit meiner Mutter), die vielen Ehrenurkunden und Auszeichnungen, die Klaviere und der eindrucksvolle Konzertflügel, auf denen der Maestro selbst gespielt hatte (es gab sogar ein spezielles Klavier nur für die langen Schiffsreisen auf See). Und dann noch eine riesige Notenbibliothek, die heute als Arrau-Archiv fungiert.



Zum Abschluss lauschte ich andächtig einem filmischen Konzertmitschnitt von Claudio Arrau, ein Klavierkonzert von Beethoven. Dabei war sie sehr präsent, meine wunderbar klavierspielende Mutter. Und ich hätte ihr gerne erzählt, dass ich hier im fernen Chile auf ihren Spuren unterwegs war.
Mein Tipp:
Wer mehr vom Ausnahmekünstler Claudio Arrau selbst erfahren und hören möchte, hier der Hinweis zu einem YouTube-Video: https://www.youtube.com/watch?v=WXB_FgVGgUE
4 Kommentare
Brigtte
Lieber Wolfgang, ich habe heute zufällig mal wieder ins facebook reingeschaut und war total überrascht gleich am Anfang die großen Portraits von Tante Gretl zu erblicken. Ja, es ist sehr schade, dass sie ihre Karriere als Konzertpianistin nicht weiterverfolgen konnte. Ich habe sie als liebe Ersatzmutter in Erinnerung, denn ich lebte ja in Nürnberg zwei Jahre lang in eurer Familie und ich erinnere mich gerne an das mit zauberhafter Musik erfüllte Haus, wenn sie an ihrem Flügel saß. Von den großartigen Konzerten in Karlsbad, wo ich 1944 selbst noch das Kurhaus besuchen konnte (mit 4 Jahren), wusste ich leider nichts. Könntest du mir mal eine Kopie von dem Karlsbader Plakat schicken?
Herzliche Grüße
Deine Cousine Gitti
Hannah-Sophia Eckart
Hallo Papa,
War spannend die Geschichte über meine Oma so geschildert zu bekommen. Beeindruckend so eine Person in der Familie gehabt zu haben. Sie freut sich bestimmt sehr darüber, dass du auf solche Art nochmal an Sie gedenkst.
Hannah
Axel Mölkner-Kappl
Lieber Wolfgang, immer wenn Weltgeschichte und persönliche Erlebnisse und Schicksale „zusammenkommen“, finde ich es besonders spannend. Danke für diese – trotz Krieg und Vertreibung – schönen und am Ende ja auch versöhnlichen Geschichte. Wer weiß was aus Deiner Mutter geworden wäre, wenn das unsägliche sogenannte Dritte Reich nicht dazwischen gekommen wäre. Danke! Herzliche Grüße Axel
Die Crew
Lieber Axel, wir kennen uns ja quasi nur über Elke, um so mehr habe ich mich über deine nachdenkliche und einfühlsame Reaktion auf meinen sehr persönlich gehaltenen Beitrag gefreut. Danke dafür, ich nehme es als Ermutigung für weitere biographische Erkundungen…. Herzliche Grüße