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BUCHTIPP: „Die offenen Adern Lateinamerikas“ von Eduardo Galeano

Ob ich „den Galeano“ kenne? Auf unseren Reisen durch Argentinien, Chile, Bolivien und Peru wurde ich zum wiederholten Male auf dieses Buch angesprochen, vor allem von jungen Leuten. Tenor: Eine Art „Bibel der Unterdrückten“ und Pflichtlektüre, wenn ich mehr über die historischen und politischen Zusammenhänge Lateinamerikas erfahren wolle. Und mehr über die Ursachen der andauernden ökonomischen und politischen Krisen der Länder dort, über deren jahrhundertelange systematische Ausbeutung und Abhängigkeiten vom Weltmarkt, insbesondere im Zeichen des „Freihandels“. Zwar schon 1971 veröffentlicht, aber immer noch hochaktuell.

Geschichtsschreibung mit Leidenschaft

Tatsächlich hatte ich „den Galeano“ schon kurz nach seinem Erscheinen verschlungen, vermutlich 1974/75, also während meines Studiums der Geschichte. Ich hatte ihn in mehreren Nächten gelesen und war begeistert: von der Klarheit und Leidenschaftlichkeit, mit der der aus Uruguay stammende Autor die Geschichte Lateinamerikas von der Unterwerfung und Kolonisation durch die Spanier und Portugiesen bis zu den Militärdiktaturen des 20. Jahrhunderts und deren westliche Helfer (allen voran die USA)  in einem großen Wurf dargestellt hat. Dies ganz bewusst nicht aus der Sicht „der Sieger“, sondern aus der Perspektive der unterdrückten Völker, allen voran der Indigenen. Das Buch hat mich damals intellektuell fasziniert, emotional mitgenommen und enorm politisiert. Und den Titel fand ich schlichtweg genial. Drückt er doch genau das aus, worum es in dem Buch geht: um das Ausbluten eines ganzen Kontinents seit nunmehr fast fünf Jahrhunderten.

Ein Kontinent wird ausgeplündert

Beim nochmaligen Lesen und angesichts der Eindrücke und Gespräche auf unserer Weltreise wurde mir rasch bewusst, wie aktuell das Werk immer noch ist – obwohl die Entwicklung auch in Lateinamerika natürlich weitergegangen ist. Galeano erzählt die Geschichte Lateinamerikas als eine der fortwährenden wirtschaftlichen Ausbeutung und politischen Unterdrückung seitens der europäischen Kolonialmächte und später der USA. Ob Gold und Silber, Kupfer und Zinn, Baumwolle und Sisal, Kaffee und Kakao, später dann Salpeter und viele weitere Rohstoffe und Metalle: Stets entrissen die Kolonialmächte dem Kontinent, was er hergab und was sie für ihre Entwicklung gerade brauchten. Erst durch diese Ausplünderung eines ganzen Kontinents ist der wirtschaftliche und weltpolitische Aufstieg der westlichen Länder in dieser Form möglich gewesen: „Aber Tatsache ist, dass die Gewinner dank unseres Verlieren gewannen. Die Geschichte der lateinamerikanischen Unterentwicklung ist (…) auch die Entstehungsgeschichte des weltweiten Kapitalismus.“

„Die Armut der Menschen als Resultat des Reichtums der Erde“

So bringt es Galeano selbst auf den Punkt. Und weiter: „Das ist Lateinamerika, die Region der offenen Adern. Von seiner Entdeckung bis in die heutige Zeit wurde alles stets in europäisches oder später nordamerikanisches Kapital verwandelt, und als solches wurde und wird es in den fernen Zentren der Macht angehäuft. Alles: das Land, seine Früchte und seine Bodenschätze, die Menschen und ihre Arbeit- und Konsumkraft, die natürlichen und menschlichen Ressourcen (…) wurden nach und nach von außen bestimmt.“ Das hatte zur Folge, dass in den Ländern nie in die Infrastruktur  investiert wurde (außer in die Häfen und deren Transportwege ins Landesinnere), nichts in den Aufbau von stabilen staatlichen Institutionen. Im Gegenteil: Über Jahrhunderte blieb das Latifundienwesen der Spanier erhalten, also die Dominanz der Großgrundbesitzer und die völlige Abhängigkeit der landlosen Bevölkerungsmassen.

Ist Lateinamerika eine zu Armut verurteilte Region der Erde?

Zwar hat sich in den letzten Jahrzehnten einiges getan, vieles geändert. Doch nach wie vor dominieren in fast allen Ländern Lateinamerikas kleine Eliten und teilen sich untereinander die Macht im Staat auf. Und die Korruption ist nach wie vor ein riesiges Problem. Auf keinem Kontinent ist die soziale Ungleichheit so groß wie hier – trotz der Erringung der nationalen Unabhängigkeit im frühen 19. Jahrhundert. Sie war im Kern eine Angelegenheit zwischen den Spaniern und deren inzwischen in Südamerika ansässigen Nachkömmlingen. Die indigenen Völker hatten so gut wie nichts davon, ihre miserable rechtliche und soziale Lage änderte sich dadurch keineswegs. Auch die zahlreichen politisch-sozialen Revolutionen späterer Jahre haben daran nur wenig geändert. Sie sind entweder gescheitert oder haben Führer hervorgebracht, die ihrerseits wieder korrumpierbar waren. Die Beispiele dafür sind zahlreich, ganz aktuelle inbegriffen…

Galeano selbst hat dazu in seinem sieben Jahre nach dem Erscheinen 1971 formulierten Nachwort Fragen gestellt, die ihn beim Schreiben des Buches umgetrieben haben: „Ist Lateinamerika eine zu Erniedrigung und Armut verurteile Region der Erde? Ist Gott dafür verantwortlich, oder die Natur? Das drückende Klima, die unterlegenen Rassen? Religion, Brauchtümer? Das Unglück ist doch nicht womöglich in der Geschichte zu suchen, wurde nicht vielleicht von Menschenhand ausgelöst und könnte damit von Menschenhand auch wieder gelöst werden?“

Galeano – Aufklärer und Erzähler

Galeano ist 2015 in Uruguay gestorben. Zwar hat er zuletzt sein Buch – wegen dessen Zuspitzungen und des Sprachstils – selbst kritisch gesehen, war aber stolz darauf, dass es unter den Militärdiktaturen Chiles, Uruguays und Argentiniens verboten war. Er hatte vier Jahre für das Buch recherchiert und es laut eigener Aussage „in 90 Nächten geschrieben“. Das merkt man dem Buch bis heute an: Es ist faktenreich, mitunter polemisch, aber gut erzählt, in einer, wie ich finde, sehr verständlichen und kraftvollen Sprache. Dazu ist es bis heute hochaktuell – also alles andere als ein „langweiliges Geschichtsbuch“. Hugo Chavez, der verstorbene Präsident Venezuelas, hat es 2009 medienwirksam Barack Obama geschenkt, damit dieser die spezielle Situation südamerikanischer Länder und die verhängnisvolle Rolle der USA besser verstehen könne.

Südamerika, Afrika, Indien…

Ich kann nur empfehlen, dieses epochale Werk (erneut) zu lesen, zumal es viele Parallelen zu anderen Weltregionen gibt, die wir bereist haben. Gemeint sind damit Afrika und Südostasien, auch Indien, deren „Schicksal“ von vergleichbaren Entwicklungen geprägt war – auch wenn Indien und insbesondere Südostasien sich meines Erachtens in den letzten Jahrzehnten stärker aus den Folgen kolonialer Vergangenheit befreien konnten. Auch dort gilt das Paradoxon: Je mehr natürlicher Reichtum ein Land hat, desto schlechter geht es der Bevölkerung. Und: Wir wissen es zwar, hören es aber ungern – unser Wohlstand hat sehr viel zu tun mit der Armut in den Ländern der südlichen Halbkugel. Nun kommen sie also in hellen Scharen zu uns, in den „reichen Norden“, gerne zynisch als „Wirtschaftsflüchtlinge“ denunziert. Wäre es da nicht intelligenter, statt des so genannten „Freihandels“, der in der Regel weder frei noch fair ist, endlich dafür zu sorgen, dass Schulden erlassen werden (die meist unmoralisch zustandekommen sind), und massiv in Wirtschaft, Infrastruktur und Bildung investiert wird, damit vor allem junge Menschen dort eine Perspektive bekommen?

Eduardo Galeano: Die offenen Adern Lateinamerikas, Geschichte eines Kontinents. Peter Hammer Verlag, deutsche Erstausgabe 1973, Neuausgabe 2009, hier: eBook-Ausgabe

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Wolfgang Eckart reiste 19 Monate mit seiner Frau um die Welt. Inzwischen lebt er wieder in Süddeutschland und ist nach wie vor gerne als aufmerksamer Entdecker unterwegs.

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