Straßenszene Proteste in Santiago de Chile
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CHILE: Wenn es Abend wird in Santiago

Spätnachmittag in der chilenischen Metropole: Während die fesch gekleideten Angestellten aus den Banken und Großunternehmen in die Bar gehen, um nach der Arbeit einen Pisco Sour oder ein Bier zu trinken, andere im obligatorischen Verkehrsstau auf dem Nachhauseweg stehen, rüsten sich junge Leute zum Kampf. Von überall her ziehen sie Richtung Plaza Italia, viele mit Atemmasken, das Gesicht vermummt. Sie rüsten sich für den Straßenkampf, der gleich nach Einbruch der Dunkelheit einsetzen wird. Gleichzeitig fahren immer mehr gepanzerte Polizeifahrzeuge auf und beziehen an strategischen Punkten Position. Ein düsteres Bild.

Wir sind zwar erst 48 Stunden in Santiago, erleben das alles aber hautnah, auch deshalb, weil unser Hostal mit dem schönen Namen „Rio Amazonas“ ganz nah am Geschehen rund um die Plaza Italia liegt. Dieser riesige Platz ist fester Demonstrationsort und Kampfzone. Schon tagsüber wird der Verkehr dort von jungen Männern in abenteuerlichen Outfits geregelt, die dort sozusagen das Kommando übernommen haben. Die meisten Autofahrer halten sich daran, manche geben auch einen kleinen Obolus für den Service.

Graffiti Revolution Chilena in Santiago de Chile
Graffiti Revolution Chilena in Santiago de Chile

Straßenbarrikaden und Wasserwerfer

Schon am Spätnachmittag des ersten Tages weiß ich nicht, ob ich noch über den Platz gehen soll, um nach Bellavista, dem bekannten Ausgehviertel am Fuße des Cerro Christobal, zu kommen. Doch ich bleibe unbehelligt, fühle mich sicher. Das ändert sich, als wir abends vom Essen zurückkommen. Kurz vor Erreichen unseres Hostals taucht plötzlich ein Wasserwerfer auf, der heftig mit Steinen beworfen wird und sofort seinen Strahl auf die Werfer richtet. Glücklicherweise bleiben wir trocken, denn das Wasser ist mit üblen Chemikalien versetzt. Am nächsten Abend, wir kommen gerade von einem Besuch im Museo Pablo Neruda (äußerst sehenswert!), geht es dann richtig ab vor dem Eingang zu unserem Hostal. Während in Sichtweite auf der Plaza Italia mit lautem Knall die Tränengasgranaten explodieren, errichten Demonstranten Straßenbarrikaden, zünden Möbel an und rücken brüllend und Steine werfend gegen die Einsatzfahrzeuge vor, die ihrerseits mit Wasserwerfer und Reizgas antworten. Und es ist laut, sehr laut. Immer wieder hören wir einen lauten Knall, dazu die Sirenen der Einsatzkräfte und das harte Aufschlagen der Steine auf den Polizeiwägen. Es klingt und sieht aus wie im Bürgerkrieg. Immerhin gab es auch schon zahlreiche Tote. Überall sehen wir die Plakate mit den Fotografien derjenigen, die bei den Straßenschlachten in Santiago ums Leben gekommen sind.

Straßenszene Proteste in Santiago de Chile
Straßenszene Proteste in Santiago de Chile
Wasserwerfer bei den Protesten in Santiago de Chile
Wasserwerfer bei den Protesten in Santiago de Chile

Sozialer Sprengstoff

Was für ein Auftakt für unsere Chile Reise! Wir wussten natürlich vorher um die Situation dort, aber nicht, dass wir – unbeabsichtigt – so nah dran sein würden. Was sollen wir von dem Beobachteten halten? Was wir wissen, ist, dass die gesellschaftliche und soziale Situation in Chile schon lange sehr explosiv ist. Der Grund dafür liegt in der krassen sozialen Ungleichheit. Chile gilt zwar als vergleichsweise reiches Land mit prosperierender Wirtschaft, doch nirgendwo sonst sind die Unterschiede so groß wie hier. Neben großem Reichtum einiger, vor allem auch politisch sehr einflussreicher Familien und wichtigen Funktionsträgern in Staat, Polizei und Militär gibt es in Chile die Armut vieler. Dazu kaum soziale Absicherung, auch in der Altersvorsorge – letzteres gerade ein großes Thema hier. „No AFP“-Plakate hängen überall und richten sich gegen den „riesigen Pensionsbetrug“, der der amtierenden Regierung Piñera vorgeworfen wird.

Performance zu den Protesten in Santiago de Chile
Performance zu den Protesten in Santiago de Chile

Das erfahren wir von Caroline, unserer sympathischen Gastgeberin, die das Hostal zusammen mit ihrer Freundin betreibt und uns gegenüber sehr offen ihre Meinung sagt. Sie erklärt uns erst einmal, was die Wut der Demonstranten so besonders angeheizt habe: eine Rede des Präsidenten vom Vorabend, in der er von Menschenrechten sprach. Doch „niemand habe ihm diese Rede abgenommen“, meint sie, und spricht von der „Korruption der politischen Klasse“ in Chile. Wir melden fragend leise Zweifel an, ob ein Gewaltausbruch, wie wir ihn gerade erlebt hatten, mit Straßenkämpfern, die „die Cops“ als Feinde sehen, aber kaum politische Ziele erkennen ließen, eine Lösung sei. Oder vielleicht sogar das Gegenteil erreiche, nämlich eine um so härtere Reaktion der Staatsgewalt.

Caroline vom Hostel Rio Amazonas in Santiago de Chile
Caroline vom Hostel Rio Amazonas in Santiago de Chile

Für eine neue Verfassung und sozialen Ausgleich

Der Taxifahrer, der uns am nächsten Morgen zum Busbahnhof bringt, meint, dass er die Ziele der Protestierenden zwar richtig finde, nicht aber die Gewalt und das Chaos, das von den jungen Leuten ausgehe. Als wir zufällig an der Universität von Chile vorbeifahren, meint er augenzwinkernd, hier liege das „politische Epizentrum der Gewalt“. Auf der anderen Seite des Protests werde Freitag für Freitag in massenhaften Demonstrationen friedlich gegen die Regierung, die Polizeigewalt und die unsozialen Verhältnisse protestiert. Grundsätzlich geht es diesen Demonstranten ja darum, Chile gerechter zu machen und eine neue Verfassung auf den Weg zu bringen. Die alte stammt noch aus der Ära der Militärdiktatur unter General Pinochet.

Graffiti zu den Protesten in Santiago de Chile
Graffiti zu den Protesten in Santiago de Chile
Graffiti zu den Protesten in Santiago de Chile
Graffiti zu den Protesten in Santiago de Chile

Lange Zeit galt Chile als Hort der Stabilität in Südamerika. Doch weit in die Vergangenheit reichende soziale und ökonomische Ungleichheiten existieren noch immer. So gibt es im reichsten Land der Region extrem hohe Einkommens- und Vermögensunterschiede. Ein Prozent der Bevölkerung verfügt über 33 Prozent der gesamten Einkünfte. Dagegen arbeiten 50 Prozent der Chilenen im Niedriglohnsektor und verdienen so wenig, dass sie eine durchschnittliche Familie nicht allein versorgen können, ohne unter die Armutsgrenze – derzeit 462 Euro monatlich – zu rutschen (Angaben aus UN-Bericht von 2017). Vor allem Bildung und Gesundheitsvorsorge sind sehr teuer. Entscheidend für die Lebensumstände und Aufstiegschancen ist also das Elternhaus, aus dem man kommt. Dieser Satz kommt einem zwar bekannt vor, gilt leider grundsätzlich auch für das noch reichere Deutschland (siehe PISA-Studien). Die Unterschiede hier sind aber noch viel krasser. Und betroffen sind gerade auch junge, gut ausgebildete Leute, die für sich keine Zukunft in ihrer eigenen Heimat sehen.

Die andere Sichtweise

Dass man diese Geschichte auch anders erzählen kann, verdeutlicht uns Enrique, Besitzer eines kleinen Hotels in Santa Cruz. Wir erleben ihn ebenfalls als sehr freundlich und hilfsbereit. Aber bei ihm bekommen wir hautnah mit, wie wohl viele Chilenos denken, die dem, wie es hier heißt, „rechten Lager“ angehören, also dem des amtierenden Präsidenten Piñera. Seine Version ist, dass die Protestierenden alles nur Krawallmacher seien, die eingesperrt gehören. Wer es nicht nach oben schaffe, sei faul und selbst schuld usw. Auch das kommt uns irgendwie bekannt vor…

Unser Eindruck

Natürlich sind wir noch viel zu kurz in Chile, um die aktuelle Lage wirklich beurteilen zu können. Unser erster Eindruck ist aber, dass Chile, wie viele anderen Länder auch, nicht nur ein sozial, sondern auch politisch extrem gespaltenes Land ist. Wir sind gespannt, was uns hier noch erwartet.

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Wolfgang Eckart reiste 19 Monate mit seiner Frau um die Welt. Inzwischen lebt er wieder in Süddeutschland und ist nach wie vor gerne als aufmerksamer Entdecker unterwegs.

10 Kommentare

  • Annette Bausewein

    Liebe Elke und Wolfgang, spannend Eure Erfahrungen. Wir haben ja im August schon den „Vulkan der Gesellschaft“ kurz vor dem Ausbruch erlebt.Mit dieser großen Ungerechtigkeit kann keine Gesellschaft zufrieden sein. Es bleibt auf ungewisse Zeit noch sehr brodelnd…. genießt jetzt die pure Natur. Wir haben damals den Ausbruch des Kraters Navidad erlebt. Ein unvergessliches Erlebnis. Je südlicher ihr das Land bereist umso stiller wird es werden. Liebe Grüße aus dem ruhigen Nürnberg:))

    • Die Crew

      Liebe Annette, lieber Alejandro,
      Danke für Eure Rückmeldung – und Glückwunsch zum ersten Enkelkind. Inzwischen sind wir schon im sehr ruhigen und durchaus verregneten Süden angekommen. Gerade sind wir südlich von Puerto Montt, schauen bei Regen auf die Bucht und entdecken immer wieder Delphine – und gehen gleich in den Nationalpark zum Wandern. Und morgen fliegen wir dann nach Punto Arenas! Sind schon sehr gespannt, das habt Ihr ja auch schon gemacht… liebe Grüße aus Chile nach Nürnberg

  • Dr. Hans-Joachim Puch

    Der Bericht und die Bilder haben mich neugierig gemacht und mein Interesse geweckt. Die aktuelle Berichterstattung in den Medien über Chile ist mir zwar einigermaßen bekannt. Diese Informationen verblassen in der Flut der Nachrichten aber schnell. Ihr habt es geschafft, der politischen Analyse Leben einzuhauchen. Das „Fremde“ kommt dadurch plötzlich sehr nahe und erhält eine andere Aufmerksamkeit (!). Dass dies kritisch und dennoch ohne die Attitüde des „Besserwissens“ geht, dafür steht der Bericht im positiven Sinne. Ich bin sehr gespannt auf die weiteren Berichte und Bilder und natürlich auf Denkanstöße, die meinen persönlichen Horizont erweitern. In diesem Sinne weiterhin ein spannendes und aufmerksames Reisen.
    Herzliche Grüße aus dem fernen Frankenland.
    Jochen

    • Die Crew

      Lieber Jochen, danke für deine aufmerksame Rückmeldung! Wir versuchen auch weiterhin, mit den Chilenos über das Thema ins Gespräch zu kommen. Letztlich ist es bislang so, dass doch eine große Mehrheit unserer Gesprächspartner Verständnis für die Protestbewegungen zeigt, auch aus der oberen Schicht.Das Problem aber ist, dass nahezu alle den staatlichen Institutionen und ihren Vertretern grundsätzlich Misstrauen. Überall sehe man Korruption und Vetternwirtschaft. Was das für eine Demokratie bedeutet, kann man sich ausmalen: Sie verliert ihr Fundament, die Bürger.

  • Alfred Bartl

    Vielen Dank für diese beeindruckende Reportage!
    Nach der Lektüre wird uns bewusst, wie glücklich und sicher wir uns in unserem Land doch fühlen dürfen!
    Habt trotz dieser nicht gerade entspannenden Rahmenbedingungen eine schöne Zeit in diesem Land und sammelt weiterhin viele interessante Eindrücke, an denen ihr uns teilhaben lässt.
    Viele Grüße aus ‚Heimat‘
    Freddy u. Brigitte

  • Dr. Cornelia Schödlbauer

    Liebe aufmerksam reisende Freunde, da seid ihr ja, mit ungefährem Wissen um das, was euch erwarten könnte, mehr journalistisch als touristisch im Epizentrum der Auseinandersetzung gelandet! Starke Bilder, die viel Atmosphärisches transportieren. Das wird wohl die Zukunft des Reisens prägen, dass einem die lokalen Auseinandersetzungen auf die Pelle rücken, gerade, wenn man sich abseits der touristischen Enklaven bewegt. Ich freue mich, mehr zu lesen und wünsche euch sicheres Reisen!

    • Die Crew

      Liebe Cornelia, danke für deine Rückmeldung! Inzwischen haben wir noch zahlreiche Gespräche mit Chilenos führen können, heute beispielsweise mit einer Unternehmerfamilie und deren vier Söhnen, die hier und Chiloe Weihnachtsurlaub machen. Obwohl sie sich selbst als wohlhabend und privilegiert bezeichneten, räumten Sie ein, dass es so nicht weiter gehen könne mit der sozialen Spaltung des Landes. Die meisten verurteilen zwar die Gewalt (auf beiden Seiten), sehen aber doch ein, dass nur mit friedlichen Mitteln weit weniger Aufmerksamkeit für die Probleme zu erreichen sei…

Wir freuen uns über Eure Kommentare!

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